Es ist ein heißer Nachmittag irgendwann im Juni. Ich betrachte glücklich lächelnd meinen zehn Monate alten Sohn. Er lehnt an der Couch und grinst mich an. Seine Steh- und Gehversuche werden von Woche zu Woche immer besser und schon bald wird er seine ersten Schritte machen. Ich träume so dahin und mir fällt ein, dass wir beide noch niemals im Wald waren. Mein Sohn weiß nicht, was das ist - „Wald“. Seltsame Vorstellung: So viele Dinge nicht zu kennen, erst neu zu entdecken. Wie gerne würde ich für einen Tag die Welt einmal mit den Augen meines kleinen Jungens sehen.
Je mehr ich an die Hitze draußen und im Haus denke, umso attraktiver finde ich die Vorstellung mal wieder in den schattigen Wald ganz in der Nähe zu fahren, in dem ich monatelang nicht war. Gedacht, getan und so geht es mit dem Auto auf die zehnminütige Fahrt. Im Wald angekommen sind wir ganz allein, nur in der Ferne hört man das Rauschen von Fahrzeugen entlang der Landstraße. Es ist angenehm kühl und es duftet nach würzigen Kiefern. Ich trage meinen Sohn auf dem Arm und er ist augenblicklich fasziniert von dieser neuen Umgebung. Er lässt seinen Blick durch die hohen Baumkronen schweifen. Dann mustert er genau den Boden, die Gräser, Brennnesseln und Sträucher. Er greift mit seiner Hand nach den Spitzen der hohen Gräser und zerdrückt sie prüfend. Ich spüre, dass dieser Ort hier gut für ihn und auch gut für mich ist. Zusammen gehen wir immer tiefer in den Wald hinein und lassen die rauschende Straße immer mehr hinter uns. Als wir uns immer mehr dem Zentrum des Waldes nähern, wird es stiller und stiller. Wir hören keine Straße, keinen Wind, kein Rauschen und Knacken, nur noch das ferne Rufen eines einsamen Vogels. Wir setzen uns auf dem Boden und so wie uns das Einschlafen langsam in eine andere Welt trägt, so umfängt uns die erhabene Ruhe des Waldes und lässt alles in mir still werden. Auch die Bewegungen und der Blick meines Sohnes sind ganz entspannt und bedacht. Forschend tastet er alles in seiner Umgebung ab. Am interessantesten findet er augenscheinlich das Moos, welches sich wie ein grüner Teppich entlang einer großen Kiefer hochzieht. Er streichelt es erst und zerpflückt schließlich kleine Teile. Ich verliere das Gefühl für die Zeit, atme tief die reine Luft und beobachte lächelnd meinen Sohn. Er entdeckt die Welt - seine Welt - und ich weiß, dass es ein Geschenk ist, dass ich ihn dabei beobachten und begleiten darf.
Ich denke daran, dass Kinder durch ihre Umgebungen geformt werden und dass der Wald, die Sinneseindrücke, die Ruhe nun unmittelbar etwas mit meinem Sohn (und mit mir) machen. Ich denke daran, dass wir Menschen hunderttausende Jahre in der Natur verbrachten und dass es Verbindungen zwischen der Welt der Pflanzen und Tiere und unserer Seele gibt, von der die Wissenschaft nur bedingt sprechen kann. Es ist so, als würde die Ruhe des Waldes laut sprechen, dass es eine Weisheit jenseits unseres Verstandes gibt, die auch größer als wir Menschen ist.
Fast schon wehmütig verließen mein Sohn und ich nach zwei Stunden den Wald.
Nahezu jeden Tag fahre ich auf der Landstraße entlang des Waldes und denke lächelnd an die stillen Momente dort zurück. Es ist ein beruhigendes Gefühl, zu wissen, dass magische Orte nicht nur in der Ferne auf anderen Kontinenten zu finden sind - sondern manchmal direkt vor der Haustür.
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