Der Beobachter

Die Welt ist in meiner Wohnstube. Ich lege mich genüsslich mit einer guten Tasse Kaffee auf die Couch. In Griffweite warten mein Smartphone, mein Laptop, zwei Sachbücher, eine Zeitung, die Fernbedienung, ein Notizbuch und andere nützliche Gegenstände. Ich öffne Facebook, schaue mir die aktuellsten Kommentare und Neuigkeiten an, dann noch in Ruhe einige Nachrichtenportale durchgehen, interessante Artikel lesen, in Wikipedia etwas recherchieren, dann eine halbe Stunde in einem der Sachbücher schmöckern, zwei, drei Notizen machen, noch eine Stunde fernsehen, nach Interessantem suchen, vielleicht eine Doku, vielleicht ein Spielfilm, je nachdem, und zum Schluss noch den Lokal- und Sportteil der Zeitung durchstöbern. So kann ich stundenlang hier von meiner Couch die Welt beobachten, ohne einen Schritt vor die Tür zu machen. Sport. Wirtschaft. Literatur. Naturwissenschaft. Egal. Lokal. Global. Egal. Deutsch. Englisch. Chinesisch. Egal. Der Zugang zum Wissen und zur Welt scheinen nahezu unbegrenzt. Ich lehne mich zurück auf die Couch. Mein ganzes Leben könnte ich auf dieser Couch verbringen und hier in aller Heimlichkeit die Welt beobachten. Was "da draußen" passiert. Ich kann natürlich auch "eingreifen", hier von meiner Couch aus, könnte bei Facebook kommentieren, Bücher schreiben und veröffentlichen, alles von der Couch aus, und noch einiges mehr fällt mir ein. Aber vor allem bin ich der Beobachter, der Couch-Beobachter.

Mir gefiel in der Vergangenheit sehr die Rolle und die Idee des "Beobachters". Die Welt beobachten, sie beurteilen, sie "im Blick behalten" und dabei doch immer außerhalb der "Schusslinie", der Gefahrenzone, des Brenzligen sein. So kann man sich ein ganzes Leben in einer kleinen, heilen Welt einrichten und aus dem Fenster heraus "die Welt" beobachten. Das kann für viele Menschen auch ein (guter) Weg sein. Warum auch nicht? Aber mein Weg ist es nicht (mehr). 

Mein Leben änderte sich ab dem Moment, als ich vor die Tür trat in einer bewussten Haltung des Verändern-Wollens. Es gibt unzählige Möglichkeiten, in der Welt "da draußen" tätig zu sein. Die einen gründen Unternehmen, treten politischen Parteien bei, leisten Großes im Sport oder sind einfach nur für ihre Freunde und Familie da. Manchmal ist "die Welt" ganz nah. Man muss ja nicht gleich die ganze Welt retten wollen. Eventuell reicht es schon, den depressiven Nachbar aufzubauen und Hilfe anzubieten.

Die Welt beobachten ist das eine. Sie zu verändern aber etwas anderes. Beim Verändern muss ich aktiv werden. Auch Beobachten kann aktiv sein. Sehr aktiv sogar. Ich kann mein Beobachten hinterfragen und Perspektiven wechseln. Durch mein Beobachten verändere ich auch die Welt. Dennoch ist es leicht zu erkennen, dass es einen Unterschied dazwischen gibt, ob ich von meiner Couch und per Smartphone aus über "die Politiker" schimpfe oder selbst aktiv werde; in welcher Form konkret, ist eine andere Frage. 

Eine andere, für viele unbequeme Wahrheit ist auch, dass "Beobachten" oft deutlich bequemer ist als selbst aktiv zu werden. Raus zu gehen, zu sprechen, zu handeln, Dinge in Gang zu halten und herzustellen sind mit viel Energieaufwand verbunden. Für mich ist dieses "Rausgehen" zur Sucht geworden. Mich interessiert diese Welt. Mich interessieren meine Heimatstadt Tangermünde, mein Fußballverein, meine Schule, meine Freunde und die Familie, die Menschen, die hier wohnen und ihre Geschichten, auch die Literatur, die Philosophen und Wissenschaftler, die Politik auf vielen Ebenen und noch dutzende Dinge mehr. Aber ich sehe mich als Teil dieser Welten an und will dort gestalten. Ich habe unterschiedlichen Einfluss auf unterschiedlichen Ebenen. Immer jedoch sehe ich zuerst die Spielräume. Es gibt immer Grenzen, verschlossene Türen, Unmöglichkeiten und Unzulänglichkeiten. Jedoch kommt es auf die Grundhaltung an. Die Haltung ist: Die Welt ist ein Abenteuerraum voller Möglichkeiten. Ich kann etwas tun.

Ich glaube, dass kleine Kinder voller Potenzial stecken. Sie haben (noch) alle Möglichkeiten. Einiges mag genetisch vorherbestimmt sein, aber ihre Kultur, ihr Umfeld prägt sie enorm. Tag für Tag erleben wir jedoch, dass diese Potenziale nicht ausreichend erkannt, gefördert und zur Entfaltung gebracht werden. Die Schule spielt hier (neben einigen Familien) die wichtigste Rolle als Entfaltungsverhinderungsmaschine. Gute Lehrer brechen das System auf und finden die Lücke. Aber auch sie kämpfen immer wieder mit dem System. Irgendwann werden aus den kleinen Kindern voller Möglichkeiten Jugendliche und Erwachsene, die vor allem die Unmöglichkeiten sehen. "Das geht nicht!", "So ein Blödsinn!", "Das ist Utopie!", "Träum weiter!" Es machen sich dann breit: Resignation, Hilflosigkeit, Ergeben ins "Schicksal" und Zynismus. Ich meide bewusst Menschen, die vor allem wissen, warum etwas NICHT geht. Ich suche Menschen, die mit Möglichkeiten spielen, klug beobachten und dann aktiv eingreifen. 

Es ist nebensächlich, in welcher Form du aktiv wirst, solange es der Welt und dir selbst nicht schadet (was natürlich eine sehr schwammige Aussage ist). Entscheidend ist, dass du die Welt veränderst. Nach bestem Wissen und Gewissen. Sie dabei hin und wieder im Blick zu behalten, kann ja nicht schaden.


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Kommentare: 2
  • #1

    Sabrina (Sonntag, 01 April 2018 00:37)

    Sehr interessanter Artikel!!!
    Regt zum Nachdenken und Hinsehen an...

  • #2

    Nico (Sonntag, 01 April 2018 03:14)

    Ich werde jetzt „aktiv“ und like das gelesene mal....Du setzt mich jetzt aber vor soviel Fragen ...Insbesondere das mit den Kindern...Stichwort: Enfaltungsvehinderungsmaschine...Sind wir doch alle,Du doch auch oder???Du wirst in unserer Zeit und Gesellschaft dazu genötigt Grenzen zu setzen ,das erkenn ich jedenfalls aus Gesprächen mit Kitas,Nachbarn usw.Oder verstehe ich Dich falsch...