Ich gehe spazieren und bleibe an diesem alten Baum stehen. Ich betrachte ihn. Ich frage mich, wie alt er ist. Ob es eine Buche oder Eiche ist. Ich begutachte den Riesen auf größere
Schäden, die ein heftiger Sturm vor einigen Monaten bei zigtausenden Bäumen anrichtete. Nein, er steht stolz und unversehrt da.
Warum klettere ich nicht auf diesen Baum? Erste Ausrede: Meine Kleidung wird dreckig. Schlechte Ausrede. Zweite Ausrede: Ich könnte mich verletzten. Wieder eine schlechte Ausrede. Ich bin
ziemlich sportlich und habe noch genug Fein- und Grobmotorik, um den Baum zu "bezwingen". Dritte Ausrede: Ein anderer Spaziergänger entdeckt mich im Baum und denkt, ich bin bekloppt. Diese
Ausrede ist schon besser. Sehr wahrscheinlich kenne ich diesen Spaziergänger sogar und er mich. Vielleicht denkt sich der Spaziergänger dann: "Der Herr Stadtrat klettert im Januar auf Bäumen.
Ahja..." Ich muss innerlich schmunzeln bei diesem Gedanken. Ein anderer Spaziergänger hingegegen könnte mich um meinen Mut beneiden. Zum einen, dass ich mich auf diesen Baum, zehn Meter
über der Erde kletternd wage. Zum anderen, dass es mir augenscheinlich egal ist, was andere über mich Baumkletternden denken. Möglicherweise hätte von 10 Spaziergängern niemand den Mut, auf den
Baum zu klettern - aus welchen Gründen auch immer.
Ach ja, auch ich stehe ja noch unten und betrachte weiter den Baum.
All diese Gedanken kommen und gehen in wenigen Sekunden. Ich gehe weiter, verlasse den Baum.
Astrid Lindgren. Die kommt mir jetzt in den Sinn. Die schwedische Schriftstellerin ist selbst im hohen Alter noch auf Bäume geklettert. Es gibt kein Verbot für alte Frauen, auf Bäume zu klettern, meinte sie.
Mir kommen immer mehr Argumente FÜR das Baumklettern bei Erwachsenen in den Sinn. Training. Fein- und Grobmotorik. Kraft- und Ausdauertraining. Mentales Training. Angst überwinden. (Ich habe Höhenangst). Sich nicht so ernst nehmen. Kind sein. Oben die Aussicht genießen. Stolz auf sich sein. Vielleicht ein Eichhörnchen erschrecken.
Ich bin kurz davor, wieder umzudrehen und auf den Baum zu klettern. Halt, die Klamotten! Da war ja noch was. Erst mal umziehen! Ich gehe
weiter in Richtung Haus.
Wann bin ich eigentlich das letzte Mal auf einen Baum geklettert? Ich weiß es nicht mehr. Vermutlich mit zehn, elf Jahren. Danach wurde es irgendwann uncool. Und danach kam ich nie wieder auf die
Idee. Nun, mit dreißig Jahren wieder.
Für viele Eltern ist es nicht leicht, ihre Kinder auf Bäume klettern zu sehen. Sie könnten fallen, sich verletzen, das Genick brechen. Sterben. Loslassen ist oft schwer. Aber ohne Baumklettertraining lernen Kinder eben nicht, wie man auf Bäume klettert.
Eigentlich ist es eher peinlich, dass ich mich beim Bäumeklettern schlechter anstellen würde als mein 10-jähriges Ich.
Wir Erwachsenen denken immer, dass wir uns weiterentwickeln, in vielem immer besser, klüger werden und dabei sind uns Kinder in vielem voraus. Im Leben im Hier und Jetzt, im Genießen, im
Abschalten, in kreativen Dingen oder eben beim Bäumeklettern.
Wo ist der nächste große Baum?
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